Cavaillé-Coll

   Tableux-des-jeux 

   Hören wie Gott in Frankreich

   Peter Ewers  Organist ı  l'organiste

    

   Der Klangcharakter der neuen Baumhoer-Orgel in Stieghorst ist französisch-symphonisch. Instrumente diesen Typs sind untrennbar mit dem Namen Aristide Cavaillé-Coll verbunden, einem berühmten französischen Orgelbauer, der dem Orgelbau auch 100 Jahre nach seinem Tod noch immer wichtige Impulse geben kann.

   1811 in Montpellier geboren, war Aristide der Sohn einer südfranzösisch-spanischen Orgelbauerfamilie. Mit nur 18 Jahren vertraut ihm der Vater den Aufbau einer neuen Orgel in Lérida an. Er macht seine Sache so gut, daß man rasch auf ihn aufmerksam wird. Aristide ist ein Tüftler und dazu ein wissbegieriger Mensch mit vielen Ideen. Die Holzbearbeitung in der väterlichen Orgelbauwerkstatt revolutioniert er durch die Erfindung der Kreissäge, die später einen wahren Siegeszug um die Welt antretten sollte!

   Um 1830 lernt er den Komponisten Gioacchino Rossini kennen, der ihm dringend rät, nach Paris zu gehen. Nur in der Capitale würde er die Anerkennung erfahren, die ein Mann seines Könnens verdiene. Aber Aristide ist an den väterlichen Betrieb gebunden.

   Drei Jahre später ist es endlich so weit, er siedelt nach Paris über und wird dort, nur wenige Tage nach seiner Ankunft, durch Rossini eingeführt in die entsprechenden Kreise der kulturellen Elite, die sich besonders in privat organisierten Salons trifft.

   Der Zufall führt Aristide auch mit Verantwortlichen zusammen, die von der Ausschreibung für die neue Orgel in der Kirche Saint-Denis wissen. Saint-Denis liegt vor den Toren von Paris und ist für Franzosen ein wichtiger Ort kultureller Identität, auch weil hier (mit wenigen Ausnahmen) alle französischen Könige bestattet wurden.

   Aber Cavaillé-Coll ist spät dran. Ihm bleiben nur ganze drei Tage, um einen Entwurf für die neue Orgel vorzubereiten. Tag und Nacht arbeitet der begabte Orgelbauer an seinen Zeichnungen. Endlich legt er - völlig übermüdet - der Findungskommission einen derart ausgereiften Plan vor, daß man ihm den Auftrag zur Erstellung der neuen Orgel erteilt. Für Aristide und die Orgelbaufirma seines Vaters ein riesiger Auftrag. Sogleich beginnt man mit den Vorbereitungen.

   Der umtriebige Aristide Cavaillé-Coll hat dabei zwei entscheidende Probleme zu lösen: Mit steigender Registerzahl wächst auch der Winddruck auf das Tonventil. Diesen Druck muß der Organist durch Drücken der Taste überwinden. Große Orgeln waren immer nur in Registergruppen spielbar gewesen. Alle Register gleichzeitig gezogen brachten einen solchen Gegendruck zustande, daß man die Orgel einfach nicht mehr spielen konnte.

   Der Engländer Charles Spackman Barker (1804-1879) hatte sich bereits mit diesem Problem beschäftigt und seinen nach ihm benannten Barkerhebel entwickelt. Seine Idee war verblüffend: Der Organist öffnet mit seiner Taste nicht direkt das Tonventil, sondern zunächst ein Spielventil. Mittels dieses Spielventils wird blitzschnell ein kleiner Balg gefüllt, der seinerseits nun die nötige Kraft hat, das eigentliche Tonventil zu öffnen. Erst dieser pneumatische Hebel konnte das Problem für die neue Orgel in Saint-Denis von Aristide Cavaillé-Coll lösen.

   Aber selbst der Lizenzbau dieses „Barkerhebels“ in die neue Orgel ist ein Wagnis, an dem das ganz Projekt leicht scheitern könnte. Doch dem Erfinder der Kreissäge gelingt auch das: Cavaillé-Coll perfektioniert den Barkerhebel zur eigentlichen Serienreife - das Spielventil öffnet mit großer Kraft das sogenannte Tonventil - jetzt lassen sich zum ersten Mal alle Register gleichzeitig spielen!

   Doch dem ersten (gelösten) Problem folgt ein zweites: die Windversorgung. Je mehr Pfeifen gleichzeitig klingen, um so größer und stabiler muß die Windversorgung sein. Werden jetzt alle Register gleichzeitig spielbar, benötigt man eine ungeheuer große Windmenge. Noch völlig ohne Elektromotor und allein durch Muskelkraft komprimierte Wind-“wünsche“, lassen Aristide Cavaillé-Coll auf eine weitere Erfindung zurückgreifen:

   Die Parallelbälge nach Alexander Cummings (1733-1824) waren zwar schon bekannt, aber Aristide erkennt das eigentliche Potential und perfektioniert diese Innovation. Wurden die Orgeln früher mit großen und schwer zu betreibenden Schöpferbälgen (in der Art eines Blasebalges, so wie er noch heute zum Grillen benutzt wird) betätigt, so nimmt Cavaillé-Coll diese Schöpferbälge allein zur Winderzeugung. Die Speicherung des Windes erfolgt durch große Magazinbälge, die mit einer nach innen und außen gerichteten Falte des Balges, verbunden durch eine schmiedeeiserne Mechanik, eine bis dahin nicht gekannte Sicherheit und enorme Kapazitätsrücklage bildeten.

   Der Count-Down läuft! 1841 schließlich stellt Aristide Cavaillé-Coll sein Instrument vor, ausgestattet mit High-Tech und ausgereiften Raffinessen des Orgelbaus: Ein Instrument, wie man es zuvor so noch nie gehört hat: Gleichzeitig (!) können alle Register des Instrumentes gespielt werden. Die stabile Windversorgung ermöglicht höhere Winddrücke und damit eine bis dahin undenkbare Klangfülle! Die Wirkung auf die Zuhörer ist so überwältigend, daß Aristide Cavaillé-Coll mit einem Schlag berühmt wird.

   Aller guten Dinge sind drei: Neben der Perfektion des Barkerhebels und der Stabilisierung der Windversorgung bringt Cavaillé-Coll eine weitere Besonderheit zur Vollendung:

   Zu früheren Zeiten konnte auf einer Orgel nur laut oder leise gespielt werden und das ohne jeden Übergang. Anders als bei anderen Instrumenten ist der Orgelklang starr und der Klang kann nur dadurch wachsen, daß immer mehr Register gezogen werden. So dachte man.

   Aristide Cavaillé-Coll baut nun einen Teil der Register in ein separates Gehäuse – das Schwellwerk. Das Gehäuse ist nur zu einer Seite durch eine verstellbare Lamellenwand zu öffnen. Über einen Mechanismus kann der Organist mit seinem Fuß diese Jalousiewand öffnen und schließen. Im geschlossenen Zustand ist der Klang der Register in diesem Gehäuse durch die dichte Jalousiewand abgedämpft. Öffnet der Organist mit seinem Fuß den Schweller, so kann der Klang ungehindert austreten -  was der Zuhörer als enormen Klangzuwachs wahrnimmt. Zwar noch immer nicht so wandlungsfähig wie ein Orchester, aber immerhin ein riesiger Schritt in Richtung Ausdrucksstärke.

   Die neue Orgel von Saint-Denis verfügt natürlich auch über ein solches Récit-expressif (=Schwellwerk) und verblüfft mit seiner Wirkung die Menschen.

   War Saint-Denis 1841 schon ein Riesenerfolg - und weitere Aufträge folgten sofort - so gelingen Cavaillé-Coll forthin noch eine Reihe von orgelbautechnischen Verbesserungen. Eine bahnbrechende stammt direkt aus dem folgenden Jahr:

   1842 übernimmt Cavaillé-Coll Wartungsarbeiten in der Kirche Saint-Roch, Paris. Die dortige Orgel wird von ihm überholt und soll durch ein weiteres Register ergänzt werden. Weil im dort vorhandenen Spieltisch (der Regiezentrale für den Organisten mit den Manualen und den Registern) kein Platz mehr ist, verlegt Cavaillé-Coll das separate Windventil, mit dem das Register ein- und ausgeschaltet werden soll, als Einführungstritt auf die Ebene der Füße. Dort gibt es bereits Tritte, mit denen der Organist die Teilwerke aneinander koppeln kann. Daß man mit einem Einführungstritt ein Register und später ganze Klanggruppen hinzuschalten kann, das war zu dieser Zeit völlig neu.

   Der Gewinn dieser Erfindung war beträchtlich: Der Organist hat die Hände frei und kann während des Spiels mit seinen Füßen dieses Register bzw. diese Registergruppe zuschalten und abschalten. Diese aus der Not geborene Lösung läßt dem Tüftler Aristide Cavaillé-Coll keine Ruhe. Sein Ziel: Der Organist soll über eine Reihe von Koppeln und Einführungstritten, zusammen mit den Schwellwerken eine Orgel ohne fremde Hilfe vom leisesten Pianissimo in ein mächtiges Grand Choeur (=Tutti; alle Register sind gezogen) führen können. Und das alles ohne Übergänge! Endlich ein Instrument, was dem Crescendo (=übergangsloses Anwachsen der Klangstärke) eines Orchesters in nichts mehr nachsteht.

   Wer denkt bei einem Orchestercrescendo nicht an den herrlichen Boléro von Ravel, der nur mit einer Flöte und Schlagwerk beginnend, zunehmend alle Instrumente des Orchesters erklingen läßt bis er in einem furiosen Orchestertutti schließt. Dieser Klangzuwachs übt auf die Menschen noch immer eine ungeheure Wirkung aus. Es ist der Eindruck der kontrollierbaren Kraft und Vitalität. Damit sind exakt die klanglichen „Schlüssel“ zum Verständnis der Instrumente von Aristide Cavaillé-Coll benannt.

   Mit der 1846 auf der Weltausstellung in Paris vorgestellten Orgel der Kirche La Madeleine gelingt Cavaillé-Coll erneut ein großer Wurf: Die Klangstärke der einzelnen Registergruppen wächst weiter. Für dieses Instrument entwickelt Cavaillé-Coll besonders ausdrucksstarke Flöten, die den Querflöten eines Orchesters sehr nahe kommen. Dazu braucht er nicht nur eine stabile Windversorgung. Durch Differenzierung der Winddrücke werden diese neuen Bauformen erst ermöglicht. Um die spezifischen Anblasgeräusche einer Querflöte nachzubilden, scheut Cavaillé-Coll keinen Aufwand: Vom mittleren C der Klaviatur an erhalten alle Pfeifen der Flûte harmonique exakt die doppelte Körperlänge, die eigentlich aufgrund der Tonhöhe vorgegeben wäre. Diese doppelt so lange Pfeife hat jedoch auf ihrer Rückseite (ähnlich einer Blockflöte) ein von der Lage her genau berechnetes kleines Loch. Entsprechend intoniert, überbläst die Pfeife in den nächsten Grundton, d.h. sie klingt eine Oktave höher – die dem Original sehr nahe kommende Illusion einer Querflöte! und ein vor Cavaillé-Coll so nicht gekannter Effekt. Der extrem mischung- und durchsetzungsfähige Klang dieser Flöten wird zu einem Markenzeichen des französisch-symphonischen Orgelbaus werden.

   Mit all diesen Ingredienzen ausgestattet, folgen für die Werkstatt Aristide Cavaillé-Coll Aufträge an berühmten Kirchen: 1851 Saint-Vincent-de-Paul, Paris; 1859 Sainte-Clotilde, Paris; 1862 Saint-Sulpice (eine monumentale Orgel mit 100 Registern), Paris und 1868 die Orgel der Kathedrale Notre-Dame, Paris, die noch heute zu den schönsten Instrumenten überhaupt gezählt wird. Seine Werkstatt wächst, er erhält Aufträge aus dem ganzen Land und schließlich aus der ganzen damals bekannten Welt (einschließlich USA, Lateinamerika). Bis ins hohe Alter werkelt Aristide Cavaillé-Coll in seiner Werkstatt mit. Dabei bleiben die Mensuren, d.h. die Größenverhältnisse der Pfeifen bezogen auf den Raum, sein Betriebsgeheimnis, das erst vor wenigen Jaren gelüftet werden konnte. Gleichwohl bildet er zahlreiche Orgelbauer (auch aus Deutschland) aus, und die von ihm verlangte Präzision in der Ausführung überrascht noch heute.

   Da seine Werkstatt unter starkem internationalen Konkurrenzdruck steht, gelingt die wirtschaftlich befriedigende Führung des Unternehmens nicht immer. Mit einem seiner letzten großen Instrumente, der Orgel von St-Ouen in Rouen, steht Cavaillé-Coll - mit dem Rücken zur Wand - kurz vor dem finanziellen Bankrott. Er beschäftigt ohne Kompromisse die besten Orgelbauer seiner Zeit, verwendet ausgezeichnete Materialien und ist allein dem Ideal des reinen und puren Orgelklangs verpflichtet. Seine Instrumente können noch heute jedem Vergleich standhalten.

   Interessanterweise hat neben den berühmten Instrumenten, die das Renommée der Werkstatt begründen, die Produktion von kleinen Instrumenten mit bis zu zwanzig Registern einen großen Anteil an der gesamten Produktion. Diese Instrumente wurden mit der gleichen Präzision gefertigt wie ihre großen Schwestern. Gerade in kleineren Verhältnissen (als Chororgel etwa) konnte Cavaillé-Coll so sein ungeheures Know-How für den Orgelklang ausspielen. Was hier mit nur wenigen Registern entsteht, dürfte für viele seiner Kollegen oft nicht erreichbar gewesen sein. So konnte Cavaillé-Coll durch einen regelrechten Innovationsvorteil für seine kleinen Instrumente punkten.

   Die 510 Instrumente, die bis zum Tode Cavaillé-Colls 1899 aus seiner Werkstatt hervorgingen, zeichnen sich allesamt durch eine Reihe von Besonderheiten aus, die sich auch 100 Jahre nach Cavaillé-Colls Tod noch lesen wie das Who-is-Who der Technik des Orgelbaus:

   absolut stabile Windversorgung

   es werden verschiedene Winddrücke in einer Orgel angewendet

   die Schleiflade, quasi das Herz der Orgel, also der Windkasten auf dem alle Pfeifen stehen, wird geteilt: auf der einen Seite stehen die jeux de fonds (Grundstimmen) – auf der anderen Seite die jeux de combinaison (Zungenstimmen und Stimmen höher als 4')

   die konsequente Verwendung des Schwellwerks

   die Verwendung des Barkerhebels (in der Regel bei Instrumenten mit mehr als 20 Registern)

   die Verwendung von überblasenden Registern, den jeux harmoniques

   eine Zusammenstellung von Registern gleicher Fußhöhe auf einem Werk, was eine bis dahin nicht gekannte Klangintensivierung mit sich bringt. Cavaillé-Coll verzichtet auch bei kleinen Instrumenten bis 20 Registern nicht auf die 4 labialen 8'-Register Montre, Bourdon, Flûtes harmonique, Gambe

   die Verwendung kräftiger Zungen

   Zungen werden nach spanischer Tradition auch horizontal eingebaut, bei hohem Winddruck

   die Nutzung nicht-repetierender Mixturen (sogeannte progressions)

   die Verwendung schwebender Register wie Voix céleste, Unda maris und auch Voix éolienne

   die Erweiterung des Manual- und Pedalumfangs

   Einführungstritte für die Manualkoppeln (accouplements), Pedalkoppeln (tirasses), Oktavkoppeln, (Octaves graves und octaves aigues) die Windsperrventile (Appels), die Balanciers der Schwellwerke

   Aristide Cavaillé-Coll hatte als international geschätzter Orgelbauer der berühmtesten Instrumente seiner Zeit auch einen Einfluß auf die Besetzung der wichtigsten Organistenstellen. Schließlich wollte er, daß auch die richtigen Leute auf seinen Instrumenten spielten. Es entsteht eine ideale Wechselwirkung zwischen Orgelbau, Orgelspiel und Komposition, die noch heute als französisch-symphonische Richtung des Orgelbaus und der Orgelliteratur für sich spricht.

   Zeit seines Lebens hält Cavaillé-Coll dabei an Prinzipien fest, die noch heute dem Orgelbauer Maßstab sein können. Diese Prinzipien verbindet er mit neuen, praktikablen Lösungen, die dem französischen Orgelbau vor 150 Jahren neues Leben einhaucht. Und wie lebendig dieser Orgelklang nach den Prinzipien Cavaillé-Colls auch heute noch ist, genau das vermag die kleine Stieghorster Orgel zu Gehör bringen: Hören, wie Gott in Frankreich.

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