Konzept

   Zum Konzept
   der Orgel in Stieghorst

   Peter Ewers  Organist ı  l'organiste

   Was gibt es schöneres als Abwechslung? Das immer Gleiche durchbrechen lassen, endlich einmal durch etwas Anderes die Aufmerksamkeit, die Sinne direkt ansprechen lassen. Herrlich ist das für viele, und gerade im Überraschenden läßt sich das Leben neu begreifen.

   Für die Orgellandschaft gilt das ebenso. Besonders in kleinen  Kirchen begegnet man oft schmallippigen Instrumenten mit immer den gleichen Registern und Kompromiß-Konzepten. Natürlich gelten diese Konzepte als bewährt, man kann eigentlich nichts gegen sie einwenden - aber das Leben feiern, das verlangt schon genaueres Hinhören:

   Für die kleine Kirche in Stieghorst mit ihrem begrenzten Raum sollte eine musikalische Antwort gefunden werden, die dennoch dem Anderen, dem Überraschenden im Alltag einer Kirchengemeinde Platz verschafft.

   Üblicherweise muß ein kleines Instrument den Gemeindegesang stützen und eine Klangpalette anbieten, mit der auch Orgelliteratur für Vor- und Nachspiele vorgetragen werden kann. Um all diesen Anforderungen gerecht werden zu können, muß bei kleinen Instrumenten dann auf Register verzichtet werden, die aber gerade zu den charakteristischen Stimmen einer Orgel gehören könnten.

   Genau hier möchte die Stieghorster Orgel für Zwischentöne sorgen: Sie orientiert sich nämlich in der Ästhetik ihres Klangs entschieden an Vorbildern der französisch-symphonischen Orgel, zu deren wichtigsten Vertretern der Orgelbauer Aristide Cavaille-Coll (1811-1899) gezählt wird.

   Was hat ein solches Konzept mit unserer Orgellandschaft heute zu tun? Um das leichter zu verstehen, ein kurzer Rückblick in die Geschichte des deutsch-französischen Orgelbaus:

   Der eben schon erwähnte Cavaillé-Coll konnte in seinen Schaffensjahren 510 Instrumente bauen und exportierte in die ganze Welt. Die ganze Welt? Nicht ganz, denn aufgrund politischer Animositäten - besonders nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 - war ihm in Deutschland ein Orgelbau versagt geblieben, auch wenn von ihm sogar noch ein Kostenangebot für eine neue Orgel im Kölner Dom abgegeben wurde.

   Das deutsche Kaiserreich isolierte sich durch seine Hochrüstung nicht nur politisch. Auch der kulturelle Austausch zwischen Deutschland und Frankreich verflachte und machte der beginnenden Propaganda von einem "Erzfeind Frankreich" Platz. Selbst die Orgellandschaft blieb von dieser Tendenz nicht verschont. Waren zu früheren Zeiten noch deutsche Orgelbauer (Ladegast, Rühlmann, W. Sauer) nach Frankreich gepilgert, um dort den Orgelbau zu studieren, blieben diese Impulse jetzt aus. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wurden für viele Jahrzehnte Instrumente gebaut, die zunehmend aus industriell verstandener Fertigung stammten. Das geschah zwar auf hohem handwerklichen Niveau, aber leider immer seltener mit dem nötigen künstlerischen Feinsinn. Größer, lauter - so schien die Devise zu lauten. Die Orgeln haben jetzt eine Unzahl von Registern, und sie wachsen ins Monströse.

   Aber bereits kurze Zeit nach dem ersten Weltkrieg und dem damit verbundenen wirtschaftlichen Niedergang kommt es zu einer Rückbesinnung.

   Was bisher dunkel, laut und romantisch-gesättigt empfunden wurde, erfährt besonders in der sogenannten Elsäßer Orgelreform um Albert Schweitzer, der selbst in Paris bei Charles-Marie Widor ausgebildet worden war, eine tiefgreifende Wandlung. Vielleicht läßt sich die Elsäßer Orgelreform so fassen: Weg vom industriellen Orgelbau, hin zu einem Klang der schönen Orgeln der Väter. Die barocken Klangideale von Silbermann und Schnitger erlebten eine Renaissance. Hier glaubte man, dem "idealen Klang" eines Johann Sebastian Bach nahe kommen zu können.

   Viele Orgelbaufirmen wußten diese Trendwende zu nutzen und überboten sich nun mit ihren Instrumenten, die immer heller und spitzer klangen, um einer idealisierten barocken Klangwelt nachzueifern. Im Zuge dieser Aufhellung des Klangempfindens werden nun romantische Instrumente barockisiert. Dabei wurden wertvolle Instrumente der Romantik regelrecht zerstört und so manches Orgelwerk empfindlich in seiner ursprünglichen Klangpracht beschnitten. Der Orgelbauer mit der Metallsäge in der Hand (um bestehende Register zu kürzen, den Orgelklang aufzuhellen) wurde für viele Jahre das sprechende Bild dieser Ära des sogenannten "Neo-Barock".

   Diese Änderung des Klangempfindens konnte auch in Frankreich Raum gewinnen, und selbst die symphonisch-romantischen Instrumente eines Aristide Cavaillé-Coll waren von dieser Tendenz betroffen, wenn auch in einem besonderen Sinne: Seit der Trennung von Staat und Kirche 1905 verfügten die Kirchengemeinden Frankreichs über deutlich weniger Mittel, um die Instrumente im Sinne dieser Tendenz umgestalten zu lassen. Oft wurden nur Register ausgewechselt (eine kräftige Zunge gegen eine Oktave 2' etwa), und sehr viel seltener als in Deutschland ersetzten "neo-barocke" Instrumente ihre älteren romantischen Schwestern.

   So wie Orgelliteratur eines bestimmten Typs immer auch für einen besonderen Typ von Orgel komponiert wurde, so braucht es für Innovationen im Orgelbau immer zwei: den Orgelbauer und den Organisten. Die nächste "Trendwende" im Orgelbau wurde in den 1980er Jahren durch eine Reihe von engagierten Interpreten auf der Orgel angestoßen. Man wollte nicht länger das symphonisch-romantische Repertoire auf für diese Musik wenig passenden Instrumenten spielen. Natürlich muß sich Widors berühmte Toccata auf einer Barockorgel anhören wie das Gedudel einer Jahrmarktorgel. Wird das gleiche Werk hingegenauf einem Instrument mit symphonisch-romantischer Ästhetik gespielt, so erhält es seinen ursprünglichen Charakter und Charme zurück. In Orgelneubauten in Deutschland sehen sich Orgelbauer zunehmend mit dem Wunsch konfrontiert, zunächst romantische Register und darüber hinaus auch ganze Instrumente im Sinne einer längst vergessenen Klangästhetik zu gestalten.

   Dabei lag es nahe, für die großen Werke der französisch-symphonischen Orgelschule auch die dazu passenden Instrumente zu studieren, die noch immer - wenn auch geringfügig verändert - ein verstaubtes und wenig wahrgenommenes Emporendasein führten. Ganze Busladungen von Orgelbegeisterten fahren nun nach Frankreich, und viele sind erstaunt: Wie konnte es sein, daß man diese prachtvollen Instrumente so viele Jahre einfach nicht gehört, einfach nicht wahrgenommen hatte?

   Regelrechte Schätze gab es zu entdecken: Noch völlig unberührte Instrumente jener Epoche, die vielleicht ein wenig eingestaubt noch immer mit einem unglaublich frischen und lebendigen Klang zu überzeugen wußten. Mir erzählte einmal ein Orgelbauer, wie er beim Betreten eines Orgelgehäuses einer Cavaillé-Coll in Nordspanien noch eine Zeitung gefunden habe mit dem Jahresdatum der Einweihung - 1888. Leicht vorstellbar, wie offen dieser Orgelbauer wurde für die Erkenntnisse und das Raffinement seiner französischen Kollegen 100 Jahre zuvor!

   Was hat es nun mit dem Klang einer solchen "französischen" Orgel auf sich? Was ist das Besondere an ihr? Das alles sind Fragen, denen engagierte Orgelbaumeister in Deutschland nachgehen. In der Folge entstehen Instrumente, die mehr und mehr eine Interpretation der für diesen Orgeltyp geschriebenen Werke ermöglicht.

   Soweit die bis an uns heranreichende knappe Orgelbaugeschichte, die uns in Stieghorst allerdings in besonderer Weise berührt:

   Gerade die Öffnung des deutschen Orgelbaus auf eine eher romantische Ästhetik scheint bisher bei der Konzeption kleiner Instrumente spurlos an uns vorbeizuziehen. Es entsteht der Eindruck, daß bei Instrumenten mit weniger als 15 Registern wie bisher "barock" gedacht und "neo-barock" gebaut werden darf.

   Überall? Nein, nicht überall. Denn in Stieghorst gab es die seltene Gelegenheit, das symphonische Klangkonzept auch auf ein kleines Instrument anzuwenden.

   Aristide Cavaillé-Coll hat ohne Zweifel auch monumentale Orgeln gebaut. Der größte Umfang seiner Aufträge bestand aber aus kleinen Instrumenten, die oft als Chororgeln in Kirchen oder als Salonorgeln in bürgerlichen Häusern zum Einsatz kamen.

   Wer eine solch kleine Cavaillé-Coll-Orgel gehört hat, ist verblüfft. Seine Instrumente verfügen zwar über nur wenige Register, aber diese wenigen Stimmen sind ungemein farbig intoniert, arbeiten charakteristische Nuancen heraus, lassen sich hervorragend mischen und verfügen selbst in großen Räumen über eine erstaunliche Durchsetzungskraft: Klein aber oho - so möchte man sagen. Für die Stieghorster Orgel eine Steilvorlage also:

   Wer Orgel bisher mit dem gotischen Ideal von einem hellen, spitzen, bisweilen aufdringlichen Klang zusammenbrachte, der erlebt jetzt in Stieghorst etwas anderes. Der Klang der neuen Orgel ist fülliger, gesättigter und weniger aufdringlich. Dabei steht keineswegs die Lautstärke im Vordergrund. Vielmehr soll der Klang tragen und mit dem Gesang verschmelzen.

   In Stieghorst wurde jetzt jedes einzelne der elf Register so durch Hugo Weidemann intoniert, also direkt auf den Raum hin angepaßt, daß es sich selbst begleiten kann: In den höheren Lagen (Diskant) bekommt das Register solistische Qualitäten, in den unteren Lagen (Baß) bleibt es vornehm zurückhaltend. Selbst das Tutti (wenn alle Register gezogen werden) hat  Noblesse, die Orgel ist niemals laut und vordergründig, wohl aber von einer kraftvollen Frische.

   Das neue Instrument in Stieghorst spricht für sich selbst. Sie können es hören und spüren, wie dieses Puzzle aus mehr als 30 000 Teilen zusammengefügt wurde zu einem Klangerlebnis, das im besten Sinne überrascht. In Stieghorst läßt sich Abwechslung buchstäblich hören!

   Die Orgelbaufirma Baumhoer hat sich in Fachkreisen durch die Restauration deutsch-romantischer Instrumente ein hohes Ansehen erworben. Aus einem Wettbewerb für Stieghorst mit strengen Auflagen hervorgegangen, konnte sich das Team um Orgelbaumeister Albert Baumhoer jetzt intensiv in den "französischen Typ" dieser so spannenden Zeit des Orgelbaus hineinarbeiten. Bei der Bemaßung der Mensuren, also der Durchmesser und Proportionen für die Pfeifen, wurde auf überlieferte Mensuren des französischen Vorbilds Cavaillé-Coll zurückgegriffen.

   Die historischen Erkenntnisse und Forschungen der letzten Jahre im Bereich der wissenschaftlichen Orgelbaukunde (Organologie) hat eine Reihe von Veröffentlichungen mit sich gebracht, die auch Eingang gefunden haben in den Orgelneubau für Stieghorst.

   All diese Erfahrungen lassen die Orgel zu dem werden, was sie ist: ein echtes Kulturinstrument.

   Orgelbaumeister Baumhoer hat in der Konstruktion der Orgel sein langjähriges Wissen und seine Freude an soliden und dabei effektiv ineinander greifende Komponenten der Windladen (dem Herz der Orgel) eingebracht. In der Konstruktion einer Orgel liegt das Salz in der Suppe. Die 11 Register z.B. wurden so äußerst durchdacht und mit pfiffigen Lösungen dazu auf kleinstem Raum realisiert.

   Krönender Abschluß des Orgelbaus bleibt die Intonation. Hugo Weidemann gilt als alter Fuchs in der Fachwelt, und mit seinen mehr als 40 Berufsjahren Erfahrung als Intonateur bot er die besten Voraussetzungen für den perfekten Klang. Seine Aufgabe war keine einfache: Die Stieghorster Kirche verfügt über einen Nachhall von knapp 1,5 Sekunden. Da ist kein Raum, der den Orgelklang nachträglich "veredeln" könnte wie der einer großen Kirche oder Kathedrale. Allein die Güte der Intonation entscheidet hier, wo alles offener, ehrlicher, ja intimer klingt.

   Die Herausforderung, gerade bei einem so kleinen Instrument einen bestimmten Orgeltyp zu schaffen, liegt weitaus höher als bei einem größeren Instrument, von denen es zahlreiche in den Bielefelder Nachbarkirchen gibt. Stieghorst verfügt jetzt über eine Orgel mit einem besonderen Gesicht in der Orgellandschaft. Ein Klanggesicht, das sich dem Zuhörer vielleicht einprägt als etwas ganz Anderes, als eine willkommene Abwechslung im Alltag, als sinnhaftes Zeichen der Gegenwart des lebendigen Gottes.

    

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